Erinnerungen an die Nazizeit

Hans Scholz (zum 9. November 1938):
Ich ging am nächsten Morgen, also am 10. November 1938, von meinem Atelier in der Kantstraße zur Garage Ecke Fasanenstraße und holte meinen Wagen. Da sah ich die rauchenden Trümmer der Synagoge. Von dem Garagisten erfuhr ich: Die Nazis hätten das eichene Gestühl der Synagoge nicht in Brand gekriegt. Da gingen sie in die Garage und kauften 20 Liter Benzin, schütteten das in die Synagoge. Da brannte sie. Die Feuerwehr stand an der S-Bahn, damit das Feuer nicht auf die Bahn übergriff, nicht aber, um die Synagoge zu löschen.

Heinz Oehlert (zum 9. November 1938):
In der Gegend um den Savignyplatz kam damals – im Zusammenhang mit den Plünderungen jüdischer Geschäfte – eine neue Redensart auf. Wenn sich jemand neu eingekleidet hatte, konnte er u.U. die spöttische Bemerkung hören: „Na, da stecken ja noch die Scherben drin.“

Charlotte Meyer:
Ich bin zu Fuß zum Bahnhof Charlottenburg runtergegangen. Es fuhr keine Bahn, es fuhr nichts. Ich lief die ganze Wilmersdorfer Straße entlang: alles kaputt! Drei, vier Häuser standen vielleicht noch. Es glühte noch alles, es brannte noch alles.
Unterwegs traf ich den Kassierer der Commerzbank. Ich war damals in anderen Umständen. Er fragte: „Frau Meyer, was machen Sie denn hier? Suchen Sie Ihren Mann?“ Dann drückte er mir so die Hand und sagte weiter nichts. Da ahnte ich etwas.
Ich komme zum Haus 107 hin: Es war alles kaputt, verbrannt, runtergebrannt bis unten, bis auf die Mauern.
Ich bin zum Polizeirevier Kaiserdamm gegangen und habe gemeldet, dass mein Mann nicht zu finden war. Eines Tages bekam ich Nachricht, ich möchte doch hinkommen, es sei etwas zu besprechen. Da lagen seine Brieftasche mit angekohltem Geld, sein Ausweis und verschiedene Papiere, der Trauring und die Schlüssel. „Ja, das gehört alles meinem Mann.“
Den Ring den mein Mann anhatte, trage ich jetzt.

Hans Löwenstein:
Solange ein Bombenangriff war, waren wir relativ frei. Und auch wenn die Stadt brannte gab es sechs, acht oder zehn Stunden, wo sich niemand um uns Juden kümmerte, und wo es sogar ein Leichtes war, den Judenstern abzumachen. Die Deutschen haben gedacht, dass die Bombenangriffe das Schrecklichste waren. Da haben sie so viel Angst gehabt um ihr Eigentum, um ihr Leben und um ihre Angehörigen. Für uns waren die Bombenangriffe die einzigen Stunden, wo wir frei atmen konnten, weil wir genau wussten: Es kümmert sich niemand um uns!

Charlotte Israel:
Meine Schwägerin arbeitete am Zoo bei Spirella. Das war eine Korsettfabrik, sie war dorthin zwangsverpflichtet. Weil die Wohnung in der Kantstraße lag, musste sie jeden Tag zu Fuß die Kantstraße entlang gehen. Und jeden Tag traf sie einen Schupo, der sie – die Sternträgerin – im Vorbeigehen grüßte. Am 27. Februar 1943 sagte der Schupo im Vorbeigehen zu ihr: Es ist dicke Luft! Gehen Sie nach Hause!“
Das war ein prima Kerl! An diesem Tag war die Fabrikaktion.

Edith Zabel:
Wir hatten seit 1938 ein Geschäft in der Kantstraße, in dem viele Juden verkehrten. Auch Kurt Lindenberg kannte ich schon lange, aber ich hatte nie darauf geachtet, ob er Jude war oder nicht.
Am 27. Februar 1943 ging die Ladentür auf und Kurt Lindenberg kam rein. Er wirkte ziemlich abgehetzt und fragte, ob er mal telefonieren könne. Dass die Leute kamen und telefonierten, war bei uns gang und gäbe. Damals hatte eben nicht jeder sein Telefon.
Kurt Lindenberg sagte noch leise zu mir: „Ich bin nämlich Jude.“ – „Na Mensch, dann machen Sie, dass Sie nach hinten kommen, weg aus dem Verkaufsraum. Es ist höchste Zeit!“
Er erzählte mir dann von seiner Flucht. Nun war Kurt Lindenberg vogelfrei, lebte illegal. Ich wusste damals aber nicht, wo er sich – außer bei uns – sonst noch aufhielt. Mit solchen Informationen wollte er uns nicht belasten. Bei uns war er öfter in der Wohnung nahe am Bahnhof Charlottenburg oder im Geschäft. Wir haben dann zusammen gegessen.
Wir hatten noch ein Grundstück außerhalb Berlins, auf dem wir uns manchmal aufhielten. Wenn wir dort waren, stellten wir ihm die leer stehende Wohnung in Charlottenburg zur Verfügung.
Das ging gut, bis die anderen Hausbewohner misstrauisch wurden. Ich sagte Kurt Lindenberg natürlich sofort Bescheid und dann verschwand er.
Das war im Herbst 1943. Anfang Dezember kriegten wir eine Weihnachtskarte von ihm. Da war er schon in Schweden.

Frau Klein:
Meine jüdische Freundin Steffi Tischler wohnte zunächst in der Essener Straße. Als ich sie einmal besuchte, kam gerade Fliegeralarm. Ich musste mit ihr in den Judenkeller: Das war ein Verschlag, vielleicht zwei Meter lang und einen Meter breit. Darin hat uns der Luftschutzwart eingesperrt. Als wir wieder oben waren sagte ich zu Steffi: „Nehmen Sie alles mit, was Sie haben von Ihrem persönlichen Bedarf. Sie kommen zu mir!“ – „Dann muss aber ein Stern an Ihre Tür.“ – „Das Ding machen Sie ab!“
Insgesamt hat sie dann zwei Jahre bei mir gelebt. Zuerst in der Zietenstraße, aber das Haus wurde ausgebombt. Ich musste dann in die Kantstraße Ecke Leibnizstraße ziehen, wo mein Mann wohnte. Meine jüdische Schwiegermutter hatte man inzwischen abgeholt. Steffi kam mit in die Kantstraße. In der Wohnung waren wir nicht etwa allein, sondern mit noch einem „arischen“ Ehepaar. Wenn ein Zimmer frei war, wiesen die Behörden Mischehen bei uns ein.
Eine Frau die dort wohnte und mit einem jüdischen ehemaligen Schulrat verheiratet war, bedrängte mich immer: „Schaffen Sie das Mädchen weg! Die gefährdet uns alle!“
Aber ich habe Steffi Tischler behalten. Wenn es klingelte und wir dachten, es könne Gestapo sein, schickte ich Steffi zur Hintertür und die Treppe rauf, damit sie nicht abgefangen wurde, wenn sie runter ging.
Das ging auf diese Weise immer gut. Einmal kam ein Mann von der Kriminalpolizei mit noch einem Kollegen zu uns. Sie sprachen mit meinem Mann. Der setzte ihnen alles vor, was er an Schnaps zur Verfügung hatte.
Sie haben geredet und geredet. Der Kripomann sagte später zu uns: „Schicken Sie sie mal für eine Weile weg!“ Nach dieser Warnung schickten wir Steffi für ein Vierteljahr nach Hamburg.
Steffi blieb auch später noch bei uns, als das Haus in der Kantstraße ebenfalls ausgebombt wurde.

Klara Blocht:
In meinem Haus wohnte in Untermiete bei einem Ehepaar H. eine junge Frau. Sie war unverheiratet und hatte einen kleinen Sohn. Eines Tages sagte diese Frau zu dem Hauptmieter der Wohnung, wo sie untergebracht war: „Der Krieg geht verloren. Diese Verbrecher an der Regierung werden alle noch erleben, dass sie dem Ende zugeführt werden.“
Dieser Hauptmieter zeigte die Frau an, sie wurde verhaftet und kam ins Untersuchungsgefängnis in der Kantstraße 79.
In dieser Zeit ging ich manchmal in einen Laden am Stuttgarter Platz, wo ich für viel Geld Tabak schwarz kaufte. Im selben Laden holte eine Frau ihre Zigaretten, die Aufseherin im Gefängnis Kantstraße war. Ich fragte die Gefängniswärterin: „Sagen Sie mal, haben Sie eine Gefangene Soundso?“ – „Ja, die ist bei uns drin.“ Ich versuchte, das Vertrauen der Wärterin zu gewinnen. Sie beklagte sich, dass sie wenig verdiene und es ihr eigentlich nicht gut gehe. Das sagte ich: „Ich kann Ihnen doch helfen; Nehmen Sie die hundert Mark. Geben Sie mir mal Ihre Adresse, ich besuche Sie kann und kann Ihnen helfen!“
Ich traf sie dann auch wieder und erreichte, dass sie mich an einem Sonntagabend reinließ. Sie rief die Frau Soundso heraus, und ich konnte mich mit ihr unterhalten. Ich sagte: „Ich kümmere mich um Ihren Sohn!“
Später kam es noch zu einem Prozess. Ich sagte dort zwar zu ihren Gunsten aus, aber ich war die einzige Entlastungszeugin. Sie wurde verurteilt. Letztlich kam sie nach Brandenburg in ein KZ, aber sie überlebte.

Heinz Albrecht:
Ich nahm 1934 nach meiner Entlassung aus politischer Inhaftierung (u.a. im Konzentrationslager Oranienburg) Verbindung zur SAP auf, der ich seit 1931 angehörte.
Zu unserer SAP-Fünfergruppe gehörte Georg Kunz, der in der Niebuhrstraße wohnte. Er lebt heute nicht mehr. Wir trafen uns in der Wohnung von Georg Kunz. Er selbst arbeitete in einer kleinen Druckerei in der Leibnizstraße, die z.B. Geburtstagskarten, Trauerkarten usw. herstellte. Die Druckerei hatte nur einen Setzkasten. Georg Kunz war dort Buchdrucker. Der Inhaber der Druckerei war fast immer betrunken, deshalb hat er die Arbeit dem Georg Kunz überlassen. Auf diese Weise konnten wir dort nach Feierabend unsere Flugblätter richtig drucken.
Die Flugblätter enthielten Nachrichten, die wir auf dem englischen Sender hörten, und auch Nachrichten, die wir aus Basel bekamen.
Ein Mitglied unserer Gruppe war Ballistiker. Er entwickelte einen besonderen Trick zur Verteilung von Flugblättern: Unser Standort war der Dachboden eines Hauses in der Kantstraße, dicht am heutigen Breitscheidplatz. Der Portier des Hauses war ein alter Reichsbannermann. Er gab uns den Schlüssel zum Dachboden. Oben auf dem Dach spannten zwei Mann unserer Gruppe einen Expander. Der dritte Mann steckte die Flugblätter vor den Expander und zog ihn ganz aus – dann ließ er ihn los. Wir haben unsere Flugblätter genau dann abgeschossen, wenn die Kinobesucher aus dem UFA-Palast kamen. Die Flugblätter fielen herunter, als wenn ein Flugzeug sie abgeworfen hätte! Diese Methode funktionierte eine ganze Weile ganz gut. Dann aber hörten wir, dass die SA die Häuser in der Hardenbergstraße kontrollierte, weil sie annahm, dass die Flugblätter von einem Dachstuhl, von einem Balkon oder aus einem Fenster in der Hardenbergstraße gekommen waren.
Eines Nachts gingen wir wieder auf den Dachboden, öffneten die Klappen und beobachteten die Dächer in der Hardenbergstraße. Hinter dem Schornstein lagen Leute auf der Lauer! Deshalb haben wir erstmal vier Tage Pause gemacht – bis kein Beobachter mehr zu sehen war. Danach wiederholten wir die Aktion noch zweimal.
Aber dann bekam der Portier Angst. Er sagte: „Sie fangen jetzt auch an, die Kantstraße zu prüfen. Ich weiß nicht, ob ich es aushalte, wenn sie mich furchtbar rannehmen, ob ich dann nicht doch aussage.“
Daraufhin hörten wir mit der Aktion auf. Wir hatten das immerhin über zwei Monate gemacht – und das fast jeden Abend!
Der Gestapo gelang es nicht, unsere Gruppe zu fassen. Aber im Frühjahr 1938 machte die Druckerei in der Leibnizstraße pleite. Unser Ballistiker, der den Expandertrick erfunden hatte, wurde bald danach einberufen – ausgerechnet nach Peenemünde zu Wernher von Braun! Ich selbst wurde aufgefordert, als Lohnbuchhalter am Westwall zu arbeiten.

Ida Winter:
Ich war schon als junges Mädchen in einer zionistischen Organisation, und zwar in einer orthodoxen zionistischen Jugendorganisation. Unser Hauptbüro war in der Kantstraße.
Als ich 1939 eines Tages nach Hause kam, war die Wohnung versiegelt von der Polizei oder der SS. Auf jeden Fall habe ich mich nicht gemeldet, obwohl meine Sachen noch in der Wohnung waren. Meine Eltern waren zu dem Zeitpunkt schon von den Nazis abgeholt.
Ich bemüht mich nun, möglichst schnell aus Deutschland wegzukommen, und so fing die Lauferei aufs Palästinaamt und in die Kantstraße 158 [Sitz der Reichsvertretung der Juden] an. Soweit ich mich erinnere, hat man in der Kantstraße alle Probleme bearbeitet, die mit der Jugend zusammenhingen. Mir riet man, mich nirgends zu melden, sondern zu Verwandten zu ziehen. Man werde versuchen, mich so bald wie möglichst wegzuschicken. Fast jeden Tag war ich nun dort.
Nachdem ich ca. sechs Wochen dort war, bekam ich Bescheid, dass meine Ausreise bestätigt sei. Meine Papiere holte ich in der Kantstraße 158 ab.